Einander achten in unserer Unterschiedlichkeit

Arnold Neumaier



Jesus sagt über seine Jünger zu Gott: Ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst. (Johannes 17:22-23)

Trotzdem sind die Christen in vielen Dingen geteilter Meinung darüber, wie man wichtige Details der christlichen Texte und der christlichen Lehre interpretiert. Eins sein bedeutet eins sein in der Liebe, nicht in der Meinung.

In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein (also weder religiöse Strenge noch Liberalität) etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. (Galater 5:6)

Der grösste unter euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht. (Matthäus 23:11-12)

Nicht der rechtgläubigste, nicht der konsequenteste, sondern der am meisten dienstbare Christ ist der Grösste!

Einer achte den andern höher als sich selbst. (Philipper 2:3)

Das zu tun finden wir oft schwierig, insbesondere, wenn wir meinen, etwas als sicher erkannt zu haben.

Jesus gibt uns daher eine Anleitung: Wenn du von jemandem zur Hochzeit geladen bist, so setze dich nicht obenan; denn es könnte einer eingeladen sein, der vornehmer ist als du, und dann kommt der, der dich und ihn eingeladen hat, und sagt zu dir: Weiche diesem!, und du musst dann beschämt untenan sitzen. Sondern wenn du eingeladen bist, so geh hin und setz dich untenan, damit, wenn der kommt, der dich eingeladen hat, er zu dir sagt: Freund, rücke hinauf! Dann wirst du Ehre haben vor allen, die mit dir zu Tisch sitzen. Denn wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden. (Lukas 14:8-11)

Und der Apostel Paulus schreibt: Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäusserte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, wurde den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst... (Philipper 4:5-8)

So wie Christus auf seine ewige Herrlichkeit verzichtete (ohne sie wirklich zu verlieren) und als ein Mensch auf Erden lebte, müssen wir unseren Stolz auf unser Wissen um die rechte Art, Christ zu sein, und auf die Ernsthaftigkeit, mit der wir Gott nachfolgen, loslassen. Wir sind nicht mehr als ein Teil des Leibes Christi, wie er hier auf Erden ist, also mit all seinem Mangel an Vollkommenheit.

Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben, damit im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit. Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied. (1. Korinther 12:24-27)

Die mangelnde Funktionsfähigkeit eines angeschlagenen menschlichen Körpers wird von Krücken unterstützt, künstlichen Gebilden, die die Unvollkommenheiten sichtbar machen, aber gebraucht werden, um uns trotzdem funktionsfähig zu erhalten. Die offen sichtbare Unvollkommenheit des Leibes Christi kann ebenso verstanden werden. Wir wissen selbst am besten, wo wir auf unsere Weise zu diesem Mangel an Vollkommenheit beitragen.

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. (Jesaja 42:3)

Das was wir in der Gemeinde oder an andern Christen als gravierenden Mangel an Konsequenz erleben, ist von Gott, dessen Geist den Leib Christi verbindet, geduldet, damit wir trotz aller Unvollkommenheit nicht zerbrechen, sondern Ihm wirksam dienen können.



Dieselbe Bibel muss zu sehr unterschiedlichen Menschen in sehr unterschiedlichen Umständen reden. Daher ist der Wortlaut einzelner Bibelstellen oft vieldeutig. Drängt man die eigene Sicht andern als die allein richtige auf, richtet man Schaden an.

Deshalb sagt der Apostel Paulus: Wenn einer meint, er sei zur Erkenntnis gelangt, der weiss noch nicht, wie man erkennen soll. (1. Kor. 8:2).

Er kommentiert hier Menschen, die denken, sie wissen etwas, weil sie feste Überzeugungen darüber haben. Unwissen, getarnt als vermeintliches Wissen, ist ein allgemeines Problem von Menschen mit Überzeugungen aller Schattierungen, in jedem Bereich, wo ihr Wissen nicht dem Test der Realität unterzogen wird.

Man muss erkennen, dass es wirklich schwierig ist, etwas wirklich zu wissen, statt einfach einer Tradition zu folgen, die man in gutem Glauben von einer Quelle - Eltern, der Schule, Büchern, dem Fernsehen oder dem Internet - aufgenommen hat, die zuverlässig erschien. All diese Quellen können ein korrektes Bild einer Thematik liefern oder ein stark verzerrtes, je nachdem, mit wieviel Sorgfalt, Selbstkritik oder Voreingenommenheit die Quelle zwischen Wahrheit, Vorurteil und oberflächlichen Argumenten unterscheidet.

Es kann auch ein schwerwiegender Fehler sein, sich ungeprüft auf das, was ein angesehener Christ sagt, zu verlassen. In 1. Könige 13 erzählt die Bibel eine Geschichte, wo solche Leichtgläubigkeit einen Propheten das Leben kostete.

Immer wieder bekomme ich wirkliches Interesse für etwas, was für mich vorher nur oberflächlich Bedeutung hatte. Dann lerne ich die verschiedenen möglichen Zugänge zu der Thematik kennen. Dadurch fangen meine vorherigen Ansichten darüber, was in diesem Bereich Wahrheit und Vorurteil ist, meist an, sich stürmisch weiter zu entwickeln. So manches, was ich für wahr hielt, weil ich es ohne gründlichen Test auf seine Tragfähigkeit aufgelesen hatte, ändert sich nach einiger Zeit und wird von einer reiferen und oft vorsichtigeren Sicht der Realität abgelöst. Rückblickend waren meine vorherigen Gedanken über Wahrheit und Vorurteil in diesem Gebiet immer wieder beschämend oberflächlich oder sogar falsch.

Um in kontroversen Dingen die Wahreit zu finden, muss man alle Seiten gehört und verstanden haben:

Ein jeder hat zuerst in seiner Sache recht; kommt aber der andere zu Wort, so findet sich's. (Sprüche 18:17)



Man kann daher über eine Bibelstelle so denken wie wir denken, dass es richtig ist. Aber man muss nicht so denken; viele denken anders. Es ist unübersehbar, dass auch Christen, deren Liebe zu unserm Herrn vorbildlich ist, dieselbe Bibel unterschiedlich interpretieren, je nach ihrer religiösen Prägung oder Ausbildung.

Es gibt oft verschiedene Auslegungen ein und derselben Bibelstelle, die ihre Berechtigung haben; wo es keinen Sinn macht, die Interpretation als richtig oder falsch zu klassifizieren, wie unser Ordnungssinn es gerne hätte. Wir lieben Vereinfachung, Schubladendenken, Stereotype - das führt leicht dazu, dass wir andere durch unsere Urteile knechten.

Gott liebt die Vielfalt - einen jeden Christen in seiner Eigenart. (vgl. Genesis 1:12.21.24)

Unterschiedliche Menschen verstehen Gott auf unterschiedliche Weise. Andere tun manche Dinge oder heissen manche Dinge gut, die wir nicht tun könnten oder nicht gutheissen. Sind sie deshalb weniger echte Christen als wir? Wir wollen sein, wie Gott uns wünscht und tun nach unseren Möglichkeiten, was Gott von uns will; sie auch. Wir folgen unserm Herrn Jesus Christus nach unserem besten Verständnis; sie nach ihrem besten Verständnis auch.

Es gibt nur eine Wahrheit - nämlich die Sicht Gottes. Aber weil wir nicht eins mit Gott sind, haben wir unterschiedliche Auffassungen davon, worin diese Wahrheit besteht. Daher kann es sein, dass wir etwas als unbedingt wahr oder notwendig empfinden, was für manche unserer Geschwister keineswegs als wahr oder notwendig erscheint.

Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Er steht oder fällt seinem Herrn. Er wird aber stehen bleiben; denn der Herr kann ihn aufrecht halten. Der eine hält einen Tag für höher als den andern; der andere aber hält alle Tage für gleich. Ein jeder sei seiner Meinung gewiss. Wer auf den Tag achtet, der tut's im Blick auf den Herrn; wer isst, der isst im Blick auf den Herrn, denn er dankt Gott; und wer nicht isst, der isst im Blick auf den Herrn nicht und dankt Gott auch. Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. (Römer 14:4-8)

Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist. Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet. Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander. (Römer 14:10.12.17-19)

Römer 14 klärt uns über die rechte Art auf, mit unterschiedlichen Meinungen von Christen umzugehen: Jeder sei sich seiner Meinung gewiss, so dass das eigene Urteil vor Gott verantwortet werden kann. Statt Andersdenkende zu richten oder zu verachten, streben wir dem nach, was Gerechtigkeit, Friede und Freude fördert.

Wie werden wir unserer eigenen Meinung gewiss? Wie kann man unter den vielen Interpretationen die beste herausfinden? Einige Standards aus der Bibel erweisen sich als hilfreich:

Johannes 16:13 - über Geduld, und dass uns Gott in die Wahrheit leitet.

1. Korinther 1:20-31 - darüber, dass das Wesentliche am Glauben für jeden verständlich sein muss, nicht nur für die Gelehrten.

Titus 3:9 - über das Vermeiden von Streit über Ungereimtheiten in der Bibel.



Danke, Herr, dass Du uns in einer solchen Vielfalt geschaffen hast. Bitte schenk uns Du ein Herz voll Weisheit und Liebe, dass wir mit dieser Vielfalt auf die rechte Weise umgehen, besonders dort, wo unsere Unterschiede zu Spannungen führen können. Gib uns einen Geist der Festigkeit und der Versöhnung, der heilsam ist und Frieden stiftet. Gib uns Zielstrebigkeit und Ausdauer dafür. Vertiefe unseren Wunsch danach, für Dich und mit Dir zu leben, und unser Verständnis dafür, wie wir dies auf die beste Weise tun. Amen.


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Arnold Neumaier (Arnold.Neumaier@univie.ac.at)