von Arnold Neumaier
Dogma gilt oft als Charakteristikum von Religionen wie dem Christentum. Aber die Naturwissenschaften brauchen Dogmen ebenso notwendig wie die Religionen, um weiträumig kommunizierbar zu sein.
Dogma ist die kodifizierte Auffassung von der Wirklichkeit in einem abgegrenzten Bereich der menschlichen Kultur. Die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit wird vorausgesetzt - unabhängig davon, in welchem Ausmass sie gegeben ist.
Das Dogma ist die Basis, auf der der Rest aufbaut. Unterhöhlt man das Dogma, so schwankt der Bau darüber, und die Kommunikation wird mehrdeutig, zweifelhaft. Daher wird das Dogma an Schulen und Universitäten gelehrt.
Andrerseits ist die Vertrauenswürdigkeit eines Dogmas, und damit sein kulturstiftender Wert, davon abhängig, wie gut es die beabsichtigten Aspekte der Wirklichkeit wiederspiegelt. Und das hängt davon ab, wie leicht die persönliche Erfahrungswelt der Menschen, die das Dogma teilen sollen, damit in Einklang gebracht werden kann. Daher wird an Schulen und Universitäten auch gelehrt, wie die Vertrauenswürdigkeit der Dogmen zustandekommt. Letzteres ist aber ein Werbungsakt, denn was für jemanden vertrauenswürdig ist, bestimmt dieser Mensch selbst, und niemand für ihn.
Die Mathematik beschränkt sich auf Aussagen, die zwischen formal festgelegten Konzepten bestehen, und hat daher das höchste Mass an Nachprüfbarkeit. Man braucht nur nachprüfen, ob die Beweiskette logisch überzeugend ist. Die Werbung für die Dogmen der Mathematik lautet daher: Alles wird durchsichtig; alles kann streng bewiesen werden. Man braucht keine Experimente und keine Autoritäten. Und nützlich ist es auch (auch wenn dem Laien selten bewusst ist, in welchem Ausmass der moderne Alltag von der Mathematik durchtränkt ist).
Allerdings spielen Autoritäten und deren Werte durchaus eine Rolle in der Errichtung der mathematischen Gedankengebäude - denn Richtigkeit ist nur das Minimalerfordernis für Mathematik; die Qualität kommt durch die Auswahl der nützlichsten Wahrheiten aus dem Pool aller möglichen solchen. Und was nützlich ist, hängt von der Sichtweise ab und ist subjektiv. Die einen lieben die Schönheit, andere die Allgemeinheit, wieder andere die Anwendbarkeit, und was genau unter diesen Kriterien zu verstehen ist, ändert sich auch von Mathematiker zu Mathematiker.
Physik und Chemie beschränken sich auf Aussagen über die Materialien der Welt, die überall gleich und beliebig reproduzierbar sind. Das bedingt ebenfalls ein hohes Mass an Nachprüfbarkeit, wenigstens in Alltagserscheinungen, die leicht reproduzierbar sind. Die Werbung für die Dogmen der Physik und Chemie lautet daher: Alles ist experimentell belegt, und bei genügendem Einsatz reproduzierbar. Und nützlich ist es auch, wie die vielen technischen Anwendungen und Errungenschaften zeigen.
Schwierig ist es aber mit dem Nachprüfen von Experimenten, die so aufwendig sind, dass sie nur selten gemacht werden. Kaum einer baut schnell mal einen grossen Teilchenbeschleuniger, um zu testen, ob das Hadronenspektrum im Lehrbuch korrekt angegeben ist. Die Mehrzahl der Menschen ist also auf den Glauben an eine vertrauenswürdige Berichterstattung angewiesen. Selbst die besten Experten können nur einen winzigen Bruchteil des Wissens unserer Kultur über Physik und Chemie aus erster Hand nachprüfen. Daher spielen Autoritäten und deren Werte (insbesondere was ihre Wahrheitstreue betrifft) eine viel grössere Rolle in der Errichtung der physikalischen und chemischen Gedankengebäude. Aber sie stehen unter der Kontrolle der - mal vielen, mal wenigen - Kollegen, die imstande sind, ihre Aussagen unabhängig nachzuprüfen.
Der durchschnittliche promovierte Physiker oder Chemiker lernt ausser dem inhaltlichen Dogma einen (ebenfalls dogmatisch vorgegebenen) Kanon für korrektes wissenschaftliches Verhalten, der ein gewisses Mass an Selbstkritik und Sorgfalt in der Interpretation von Rohfakten und angelesenen Informationen bedingt, und damit einen gewissen Schutz vor voreiligen Schlüssen bietet. Der typische Absolvent hat aber nur in ein paar Dutzend Experimenten exemplarisch nachvollzogen, dass die in den Lehrbüchern vermittelten Dogmen eine experimentell zuverlässige Grundlage haben. Trotzdem sollen sie daran glauben, dass das Ganze zuverlässig ist und den Autoritäten Vertrauen geschenkt werden kann. (Schlimmer noch: Stimmen im Laborversuch die Ergebnisse nicht mit dem Lehrbuch überein, wird (mit gutem Grund) nicht das Dogma verworfen, sondern der Versuch! Der Student wird gezwungen, die Versuche in hinreichende Übereinstimmung mit dem Dogma zu bringen, wenn er sein Praktikum erfolgreich absolvieren will.)
In den meisten anderen Wissenschaften (mit Ausnahme von Teilen mancher Wissenschaften wie Biologie, Medizin, und Pharmazie) ist das Wissen noch weniger hart, weil weniger gut nachprüfbar. Historische Fakten in Kosmologie, Geologie, Biologie, Archäologie und Kulturgeschichte sind nur noch an Hand von Indizien oder dem Glauben an die Überlieferung zu verifizieren; mit der Reproduzierbarkeit ist es in den meisten Fällen nicht weit her. Und in den Kulturwissenschaften sind selbst die Definitionen der Begriffe nicht unumstritten, so dass nicht einmal klar ist, ob man über dasselbe redet, wenn man dieselben Worte gebraucht.
Daher sind auch die Kriterien für Wahrheit zunehmend vager und die Zahl der konkurrierenden Schulen mit unterschiedlichen und oft inkompatiblen Erklärungsmodellen nimmt zu. Die Werbung für die Dogmen dieser Disziplinen lautet daher: Alles ist wissenschaftlich abgesichert; es gibt das Peer Review, die Begutachtung durch kompetente Kollegen, das für Objektivität sorgt. Aber man hütet sich, den Begriff der Wissenschaftlichkeit allzu scharf zu fassen, um einerseits vom Renomee der harten Naturwissenschaften zu profitieren und andrerseits nicht der heute so verpönten Unwissenschaftlichkeit geziehen werden zu können.
Und ausserhalb der Wissenschaften hat das Dogma ebenso seinen Platz; nur sind dort die Kriterien für Wahrheit noch umstrittener, die Zahl der Schulen noch grösser, und der genauer Inhalt der Begriffe noch umstrittener. Weltanschauungen und Religionen konkurrieren um die Macht, die Vorstellung bestimmen oder wenigstens prägen zu können, die sich die Menschen von der Wirklichkeit machen. Wenn aber ein Atheist, ein Hinduist, und ein Christ von Gott reden, sind die Inhalte fast komplementär. Die Dogmen schliessen einander aus. Mangels Konsens im Dogma ist die Kommunikation schwierig und das Aneinandervorbeireden fast vorprogrammiert.
Aber soweit dasselbe Dogma akzeptiert wird (oder man sich in ein fremdes Dogma eindenkt), ist die Kommunikation ebenso unproblematisch und ein Austausch von Wahrheit ebenso möglich wie in Mathematik, Physik und Chemie, wo sich jeweils ein einziges Dogmengebäude als konkurrenzlos Bestes durchgesetzt hat. Aber auch dort gibt es natürlich für Jeden fremdere Bereiche, wo Kommunikation schwieriger wird.
Wer nun die Welt der Mathematik zum Massstab für Wirklichkeit machen wollte, müsste fordern, dass nur das, was einen streng logischen Beweis hat, als Wahrheit über die Wirklichkeit anzuerkennen sei. Ins Extrem getrieben (d.h., ganz ernst genommen) wäre alles andere keine Wahrheit, da nicht sicher beweisbar. Natürlich ist das ein sinnloser Anspruch, der daher auch nicht vertreten wird.
Wer die Welt der Physik und Chemie zum Massstab für Wirklichkeit machen wollte, müsste fordern, dass nur das, was sich beliebig reproduzieren lässt, als Wahrheit anzuerkennen sei. Ins Extrem getrieben (d.h., ganz ernst genommen) wäre alles andere keine Wahrheit, da nicht sicher reproduzierbar. Natürlich ist das ein ebenso sinnloser Anspruch; und in dieser Schärfe wird er selten vertreten.
Wer die Welt der Wissenschaften zum Massstab für Wirklichkeit machen wollte, müsste fordern, dass nur das, was wissenschaftlich abgesichert ist, als Wahrheit anzuerkennen sei. Ins Extrem getrieben (d.h., ganz ernst genommen) wäre alles andere keine Wahrheit, da nicht wissenschaftlich abgesichert. Natürlich ist das ein ebenso sinnloser Anspruch; trotzdem wird er allzu häufig vertreten.
Die Wirklichkeit ist aber viel reichhaltiger, als es die Methodik einer Disziplin zu erfassen erlaubt. Wahrheit entzieht sich einer systematischen, gegen Irrtum gesicherten Nachprüfbarkeit auf allen Ebenen der Wirklichkeit. Jede Methodik verbessert die Einsicht in das, was dieser Methodik entspricht, schafft aber Scheuklappen für das, was sich ihr entzieht.
Die Methodik der Wissenschaften zum Massstab für Wirklichkeit machen zu wollen, bedeutet, die Wirklichkeit auf das Wissenschaftliche zu reduzieren. Wissenschaftliche Kriterien passen aber nicht auf das Einmalige, Unwiederholbare, Persönliche; nicht auf Werte und Ziele, Schönheit und Wichtigkeit. Trotzdem gibt es dort Wahrheit und Wirklichkeit. Ja, dort spielt sich das Entscheidende im Leben der Menschen ab, ohne Dogma.
Das Dogma ist allerdings notwendig, um miteinander zu kommunizieren, ohne jedesmal neu klären zu müssen, welcher Interpretationsrahmen gelten soll.
Arnold Neumaier (Arnold.Neumaier@univie.ac.at)